Hölderlins Gewissen
1
Die Hecke war von hochgewachsenem, dichtem Buchsbaum. Es war der erste Donnerstag im Oktober, die Natur schon in Farben. Der Garten hinter dem Haus stand in leuchtender Pracht. Ich sah das Wirken ihrer Hand. Ich sah es in den Spalieren beim Haus, der Feige und dem Maulbeerbaum mit dem gestützten Ast, die sich beide an die Südseite schmiegten, in den Rosenstöcken, die den Kiesweg säumten. Ich sah es dort hinten auf der Wiese, beim Pavillon, in der Umkränzung der Stricke, mit denen die Schaukel am Ast einer der beiden Eichen befestigt war. An der Ecke ihr Fenster. Ich kannte jeden Raum im Haus, so auch das Zimmer hinter diesem Fenster, ich wußte, wie es dort duftete. Ich sah ihre Hand mir winken und hörte sie rufen. Eine Halluzination. Da sich in Wirklichkeit noch nichts rührte, ging ich den Weg am Bach entlang zum Wirtshaus Lersner. Die Bedienung fragte nach dem Befinden. Wir waren dort jeden Sommer ein paar Mal im Garten eingekehrt, mit den Kindern oder ohne, manches Mal auch mit ihrem Mann, wenn er sich die Zeit nahm. Auf meinen Gesichtsausdruck hin stellte sie das Krüglein mit dem Viertel Apfelmost stumm vor mich hin.
2
Nun wagte ich es. Der Hausherr kam wochentags nie vor sechs Uhr aus der Stadt. Zwar hatte ich kein Zeichen von Leben gesehen, aber ihren Brief noch einmal und noch einmal gelesen. Ich hatte mich auch im Wirtshaus vergewissert, Tag und Uhrzeit stimmten. Ich nahm den Dienstboteneingang, niemand konnte mich sehen. Ihr Haar lag offen auf dem zarten Rücken, von dem das weiße Kleid einen schönen Bogen frei ließ. Das Profil im Gegenlicht. »Holder«, sagte sie, »Es ist schön, daß du wirklich gekommen bist, aber Du weißt...« Ich fiel ihr ins Wort: »Ich war umsichtig, laß es nur diesmal so sein.« Wir standen nah voreinander und berührten uns nicht. Ihr Duft von zartem Lavendel. Auf dem Sekretär ein Brief, an dem sie geschrieben hatte. »Darf ich dir eine Feder schneiden?« Ich nahm eine Gänsefeder her und schnitt mir prompt mit dem Federmesser in den Ballen. Nur Augen für sie. Ich tupfte einen Tropfen Bluts vorn nah an den Kiel. Sie lächelte und versorgte die Feder im Sekretär in dem Fach, dem sie zugleich einen versiegelten Brief entnahm und mir hergab. Wie ihre Augen immer mehr glänzten, und auch mir wollte es die Nase hoch steigen. »Du mußt nun gehen«, kam es zögerlich, und ich darauf: »Leb wohl, bis November, Geliebte.« »Mein Holder«, hörte ich noch leise, als ich schon den Fuß auf die schmale Mägdestiege gesetzt hatte.
3
Es war Mitternacht, als ich in Homburg anlangte. Die Wanderung hatte mir wie immer wohl getan. Nun fand ich mich in dem Zimmerchen wieder, in der Kemenate, im Loch. Kack-Loch. Ja, Sinclair hatte alles bereitet, der Liebe. Doch noch war ich nicht angekommen. Die Mutter hatte zuerst kein Geld geschickt, nur Weißwäsche undsoweiter. Ich wollte hier als freier Schriftsteller leben, ja! Ich hatte ein wenig Erspartes aus Frankfurt. Und sie hielten mich hier frei. An Sinclairs Seite wird einer keinen Heller los. Doch das Gnadenbrot sollte es nicht werden. Das würden sie bald sehen. So aber und vor allem war ich aus dem Himmel gefallen, direkt auf den Taunus herab. Herrgott, warum hast Du mich aus dem Paradiese vertrieben, der Du weißt, wie sehr ich dort an Stattlichkeit gewinnen durfte, an ihrer Seite, an ihrem Busen? Nun hier, allein, im Pißpott. Arbeit wird helfen. Ich werde arbeiten, Ihr Affen, Ihr werdet es sehen. Her mit dem Papier. Papier, hilf, laß Drama wachsen, daß sich die Welt Rhein, Main und Neckar hinauf und herab dran fetzen soll. Doch erst den Brief an Schiller, an den Meister!
4
»Sinclair, Sinclair!« ich hatte ihn beim Morgenspaziergang erwischt. »He, was ist mit deinen Augen, lieber Freund?« fragte er, und ich log nicht: »Ich habe die ganze Nacht geschrieben, stell dir vor, Briefe geschrieben!« »An sie? Das kann ich dir nicht verbieten, aber wenn es auf die Gesundheit geht, da bin ich davor. Hier bin schließlich ich für dich verantwortlich.« Sein Lächeln war sehr hübsch anzuschauen in der Morgensonne, und es sprudelte aus mir hervor: »An Neuffer, an Hegel, an Schiller wegen meiner Zeitschrift, wegen der Zukunft. Und wir werden den Landgrafen als Abonnent haben und seine Töchter und wir werden...« »Halt!« rief er dazwischen, und noch einmal: »Halt, Klotz, halt, laß uns erst einmal auf einen Türkischen gehen und eine Brezel, komm, und dann erzähl es mir ruhig, Du Irrwisch!«
5
Ich legte ihm meine Pläne als Schriftsteller dar. Der zweite Teil des Hyperion würde rasch fertig werden, das Drama desgleichen, das ihm gefallen würde. Der Plan der Zeitschrift. Es war einfach, es würde Geld geben, die richtigen Leute würden mittun. Wir würden die Sache des Fortschritts beschleunigen. Mein Drama, - »Sinclair, mein Drama, hier kann ich es schreiben, an deiner Seite, unter deinen Fittichen! Du weißt es zu deuten für dann, du bereitest die Ankunft der Götter ja vor!« - es würde die endgültige Form annehmen und auch in der »Iduna« erscheinen. Wie er den Namen fände, das ganze Projekt. Er fragte nach den Geldgebern. »Cotta,« rief ich, »Cotta habe ich auch geschrieben, alles diese Nacht. Er wird es in Verlag nehmen, ich weiß es, ich kenne ihn. Und wenn Schiller mittut, sowieso. Wenn die richtigen Leute dabei sind, die, um die es uns geht, mein starker, guter Sinclair, dann hat es keinen Mangel.« Und den Namen, den Namen? »Er ist schön,« sagte er, »er klingt uns anheimelnd lateinisch in den Ohren, auch wenn er nordisch ist. Die goldenen Äpfel mögen uns nie ausgehen und ewige Jugend gewiß sein.« Ich umarmte den jungen, schönen Liebling der Götter stürmisch und hätte ihn beinahe vor aller Welt auf den Mund geküßt.
6
Von nun an war der Postbote mein zweitliebster Herr im kleinen, feinen Homburg vor der Höhe. Er war ein stattlicher Kerl. Die Briefe, derer ich ihm in dieser Zeit drei bis vier täglich in die Hand gab, quittierte er mit der Andeutung einer Verbeugung vom Kutschbock herab, zwirbelte sich, dieselben in der Linken, mit der Rechten den immensen Schnäuzer und verstaute sie. Ich aber dachte nur auf Donnerstage. Woran ich schrieb, wenn ich am Drama saß, war nichts als ein Brief an sie, was ich schrieb, wenn ich in Sachen ‚Iduna’ vorstellig wurde, war in Gedanken an diese Trägerin güldener Äpfel. Wenn ich auf Schillers Antwort spannte, dachte ich an Kobus, ihren allzu erfolgreichen, ihren allzu reichen Ehemann, und haßte ihn, haßte Schiller, den Meister, ach den Meister, saß da gelb auf rot, überhitzt. Doch nein, ich lebte vorwärts, ich lebte meiner Arbeit, endlich. Die Töchter des Landgrafen waren mir vorgestellt worden. Das war einmal eine andere als die schnöde Gesellschaft zu dem hohen Frankfurt dort drunten. Sie belegten mich mit Komplimenten für den „Hyperion». Aber das taten sie auch wieder so, daß ich hochroten Kopfes vor ihnen stand und mich rasch von dannen machte. Es ist so eine Art höherer Töchter, einen vorderhand nicht ernst nehmen zu können und entsprechend vorzuführen, und man schaut ihnen dafür auf den Busen aus lauter Scham, wohin denn sonst?
He, Magister Holterlein, he, schau er sich selbst auf den Busen, aufs Herze und fische in den Gefilden des dunkleren Blutes nach Antwort. Ein Narr von solcher Art ist er doch, nicht wahr?
7
Der neue Frieden zwischen der Revolution jenseits des Rheins und der Allianz des Alten diesseits sollte in Rastatt besiegelt werden. Die Landkarte Europas würde neu gezeichnet werden von Napoleons Hand. Sinclair würde im Auftrag des Landgrafen dorthin reisen, verhandeln, die Interessen seiner geliebten Heimat vertreten, und ich - er hatte es an unserem ersten Abend zu zweit vorgeschlagen - sollte ihn begleiten, Pollux seinen Kastor auf der Argonautenfahrt. Ich zauderte nicht, an einem solchen Abend gab es kein Zaudern, überhaupt keines, da fielen wir wie Liebende ineinander und umfaßten das All. In Rastatt würde mein Drama sich von selbst anbinden an größere Wahrhaftigkeit. Schreiben, ja, Schreiben, sonst nichts, und wissen, wofür es taugt.
8
Ich stürzte mich in mein Drama. Von mir sollte weniger bleiben als ein eiserner Schuh: Empedokles auf dem Ätna. Das Volk und Empedokles, Empedokles und das Volk, der Meister, sein Schüler, und Einsamkeit, Abschied und Hoffnung. Das Vermächtnis an die Gemeinschaft. Das Fest des Selbstbewußtseins des Volkes. Alles fügte sich in eins. Und wie sollte es nicht? Nach der Rückkehr hatten sie mich hier noch mehr aufgenommen wie ihresgleichen. Die Hölle, die Schwärze weggewischt. Ich überstand den November. Wo ich sie - Himmel des Lebens - nicht gesehen hatte, nicht einmal auf dürre Worte wie an dem ersten Donnerstag. Nun aber, nun genoß ich Winterfreuden mit dem aufgeklärten Hofstaat des Landgrafen, mit seinen Töchtern und mit Sinclair, selbstverständlich. Wir fuhren im Schlitten durch den dunklen Wald an strahlenden, eiskalten Tagen. Wir grüßten die Römer mit einem Furor teutonicus der ausgelassensten Art und genossen den Punsch hinterher. Und trübere Tage verflogen mit Philosophieren nach Art der Alten, mit Vortragen aus den Almanachen der aktuellen Muse, wo ich dies und jenes beitragen konnte aus näherer Kenntnis der Autoren. Viele Nachmittage gingen auch mit frischen Noten herum, singend am Klavier. Wollte ich doch auf gewisse Art weiter ein Lehrer bleiben, so mit der Wahl eigner Sujets und am besten mit diesen fähigen Schülerinnen hier, die so unverstellter Anschauung fähig waren. Wie ich die Frankfurter Kinder vermißte, ach meinen Henri, der mir der nächste war, das stand auf einem anderen Blatt. Wie ich deren Mutter angehörte, ich schreinte es ein in Ebenholz. Wäre ich nur von Stand, wäre standesgemäß dort hinein und lässig wieder ausgezogen! Du schäbigs Hofmeisterlein, schau nur einmal in den Spiegel, fahler Geist.
Und, ja, dann gab es noch gegen die Trübsal des Himmels und den Abgrund der Einsamkeit ein und ein anderes Mal einen griechischen Abend mit meinem Sinclair, wo wir zu zweit aus seinen feinen Bechern tranken oder nur aus einem und einander angehörten.
9
Es kam der erste Donnerstag im März. Ich stiefelte durch den Matsch. Es kam der erste Donnerstag im April. An jenem denkwürdigen Tag hatte der Dichter einmal ein Pferd unterm Hintern und wechselte gleich auch einmal in einen behaglicheren Gasthof. Es kam der erste Donnerstag im Mai. Ein Mai, wie er im Buche stand. Ich hatte den Sonnenaufgang noch von der Höhe gesehen. Die Nidda, an der ich bei gutem Wetter jedesmal ein Stück des Weges nach Frankfurt hinab entlang wanderte, auch wenn es nicht direttissimo war, strömte kräftig im ausgewaschenen Bett dahin, und immer wieder schoß ein Eisvogel vorbei.
Gerade noch mit bläulich weißen Blüten gepuderter Schwarzdorn markierte den Zugang des Grundstücks. Ich schlich an der Hecke mit den langen Dornen entlang, die ich durchbrechen mußte, mich über sie hinwegsetzen. Susette stand mit dem Rücken zum Fenster. Das Zeichen, der Leuchter wie verabredet für den Fall, daß mir Eintritt und Aufenthalt verwehrt waren. Wie von ihr vorgeschlagen, nachmittags drei Uhr der zweite Versuch. Der Dienstbote durfte nun nicht einmal mehr den ihm gebührenden Aufgang nutzen, weder vorn noch hinten durfte sich der geschiedene Hofmeister einschleichen, nichts durfte der mit den schmutzigen Schnürschuhen, der Wanderer. Doch ging die Hintertüre und das Mädchen kam heraus gehuscht. Fast warf sie mir den Brief zu, um ja nicht näher kommen zu müssen. Und ihr Blick aus mausblauen Augen über der erhobenen, gerümpften Nase sagte alles für den Nu, was sie und ich voneinander wußten. So sollte also mein Leben gehen. Was einer sich selbst bereitet mit dem, was er im unbedachten Moment geschehen läßt und animalisch genießt! Merke dir, bedenke immer artig Umstände und Folgen, bevor du das Fest der Sinne feierst. Was für ein fühlloses Leben aber ergäbe sich daraus?
Ich nahm den Brief grußlos und stürzte davon. Die Straßen der Stadt waren belebt. Manch Dame trug schon Sonnenschirm. Ach der Vornehmheit der blassen Visagen, leck mich doch. Auf das Schreien auf dem Markt war ich ebensowenig versessen. Ich ging zum Fluß, doch da schrien die Fische von den Booten. Und die Sehnsucht rief mir, wie weit weg Rhein und Neckar waren von hier, von den Ozeanen zu schweigen, wenn auch alles verbunden war, das wußte ich schon. Was ich nicht alles wußte! Da lagen die Boote, Segel noch gerefft, was hätte ich für Anschluß nach Batavia gegeben im raschen Augenblick.
10
Der ansehnliche Postillon brachte Nachricht von Schiller. Bedeutender Rat vom Meister: Daß er schon soundsoviele Magazine auf den Weg gebracht und keinen Erfolg damit gehabt hätt. Merkantilismus, Schwachsinn, Pfaffensinn! Meister aller Schwaben, ich bitte Sie untertänig um Ihre väterliche Hand, nur um ein wenig Unterstützung. Was tun sie da in Thüringen auf dem teutschen Olymp? Mit Fürsten speisen von gleich zu gleich, nun denn, es schmälere nur ja nicht den Weitblick und die Unternehmungslust des dramatischen Poeten. ...Ich schrieb ihm erneut, schraubte den Ton, bis ich mir selbst nicht mehr bekannt, platt auf dem Bauch. Und Cotta antwortete nicht, ach, und dann ein kurzer Satz nur, ein typisches Verlegerwort: Namen wolle er, Namen, die in der geistigen Welt etwas galten. Scheiß doch Vogelmist darauf. Ich spuckte weit aus meinem Kemenatenfenster nach der Taube auf dem Dache gegenüber. Excusez-moi, Mademoiselle. Die sollten mich kennenlernen. Ich schriebe das alles selbst, wenn`s sein müßte. Und die treuen, hellen Freunde täten mit, der Ebel, der Neuffer, mensch, die seien doch auch gut. Und, ja, den Schelling, den Überflieger gäb es wohl, und Bruder Hegel würde auch dabei sein. Das reichte den Oberaffen aber nicht, sie wollten Namen von gestern, sie trauten unserm Feuer nicht. Die sollten mich kennenlernen.
11
Es ging weiter, nein, es ging nicht weiter. Es stockte, bekam Flecken, schwarzblaue und weiße Flecken. Weil es abgewetzt war wie ein Stoff, der mir den zweiten Himmel hatte vorstellen sollen, ach, oder liefern, ja, einen Himmel liefern auf Subskription. Das Weiß war der Schimmel, stinkender Schimmel in Kellern, die einst den Wein bargen aus meiner Kelter. Träumer, Träumerlein, Holder, Holperlein, armes Schwein. Der Cotta blieb dabei, Namen zu fordern. Das hatte ein Geschmäckle, das war ein einziges Kopfgeldjägerlatein. Schiller antwortete nicht mehr. Mit Goethe, das hatte ich damals in Jena selbst verschissen. Bah, diese Szene, meiner Blödigkeit, ihn nicht erkannt zu haben in Schillers Haus. Das war auch letztes Jahr in Frankfurt nicht mehr gut zu machen. Mein Gott, was für ein kleinkariertes Genie auf einmal, ich glaub es nicht! Für was für »Leutchen« er unsereins wohl hielt.
Sinclair sicherte mir alle Unterstützung zu. Hegel kam herauf auf den Taunus drei ganze Tage. Mein Hegel, noch auf der Hauslehrerstelle in Frankfurt, die ich ihm angetragen hatte, egoistisch, um ihn in der Nähe zu haben, aber schon auf dem Sprung, schon wollte er aufs Akademische zurück, wir disputierten über sittliches Handeln auf Fichtes Spuren, nicht weit von dem, was wir uns doch immer wieder aus dem stürmischen Frankreich erhofften. Ich las ihm aus dem Drama vor. Seine Einwürfe hatten wie immer Hand und Fuß. Nachdem er fort war, richtete ich die Szenenfolge neu.
12
War Diotima wieder einmal krank, versuchte ich sie zu stärken, stellte mein Selbstbewußtsein, meine Kraft, die ich durch sie gewann, in Briefen aus und in Versen. Ging es ihr dagegen gut, ging nach einer Weile ich den Bach hinab, weil ich ihr sagen mußte: Leb und vergiß mich. Aber wir konnten nicht voneinander lassen, wir pendelten so eines durch des anderen Nervengespinst, durch die Halluzination namens Zukunft, welche ein andauernder Abschied war, ein andauernder Schmerz genaugenommen, doch nein, doch halt, ich war ja hier, eigens so nahe, Sinclair sei Dank. Zukunft hatten wir aber nicht, die hatten wir überhaupt nie gehabt.
13
Nun ging es auf den ersten Donnerstag im Juni. Man war wieder auf den Adlerflychtschen Hof hinaus gezogen, der ganze Staat, die ganze Dienerschaft. Ich ging, ich lief, es war der Vorabend, und ich wollte wieder in den Lesnerschen Hof, aber da hatten sie nichts, da war aus unerfindlichen Markt- oder Messegründen, aus diesen merkantilen Frankfurter Gründen ausgebucht, da hatte man mir ein Strohlager anbieten wollen, da hatte ich gleich gedankt. Ich hatte ja meinen Staubmantel eingerollt dabei, und in den rollte ich mich nun an einem Mäuerlein ein, nicht zu weit weg vom Ziel meiner Sehnsucht. Das Schnurren eines Ziegenmelkers lullte mich ein. Mit der Morgensonne gab ich mein Lager auf, grüßte die drei Hähne der Umgegend und sah nun aus einem jungen Wald heraus zu, wie der Hof erwachte, sah, wie Milch ins Haus kam, wie der Rauch aus dem Backhaus aufstieg, wie alles so schön war. Wie ich Kinderstimmen hörte, Jette zuerst, gleich Henri, wie sie kurz draußen waren, den Vater zu verabschieden, der in die leichte Kutsche stieg und dem Kutscher Max Weisung gab, aha, war er also ausnahmsweise unter der Woche hier draußen gewesen, da zog es meinen Magen zusammen, da bekam ich schmerzhaften Hunger, da suchte ich mich an die jungen Bäume zu lehnen, sah in ihre hellen Kronen hinauf, da fing ich zu laufen an, da brach ich durchs Unterholz wie ein Tier auf der Flucht. Holterlein groß wollt sein, nun allein, waidwunds Schwein. Ja, Hergott noch einmal, alles auf mich herab, wie auf Hiob, der anfangs alles hatte, später nichts. Hier hatte ich doch auch alles gehabt. Hätten sie mich doch nur ein Jahr noch, ein paar Monate bleiben lassen bei ihrem Herzen. Ich hörte sie, ihr Herz hörte ich pochen und flog nach Kassel hinüber, nach Driburg im Geist - wie lang war das zurück, drei Jahre, wirklich so lange? Heinse, guter alter Mann, alter Faun, Cicerone für Auge, Ohr, Nase Geschmack, Mäzen einer Freiheit auf Stunden, die uns die Franzosen geschenkt hatten mit ihrer Besetzung Frankfurts. Herr Gontard hatte das Geschäft hüten müssen, das Säckle. Stunden, ach, Götter, gebt mir eine wieder, ohne Furcht ihren Atem zu spüren, von ihr die Liebe zu lernen, nämlich was fehlt, was ich nun nie, niemals wissen werde. Es doch noch einzuholen, wie?
Ich mußte fürchterlich aussehen. Zum Bach hin mußte ich einen riesigen Bogen machen, um ungesehen zu bleiben. Ich wusch mir das heiße Gesicht, schaufelte mir das frische Naß herauf. Nun wollte es wohl neun Uhr sein, ich würde Aufstellung nehmen auf meinem Posten. Die zehnte Stunde war die verabredete. Diotima, dein Gesetz, mit dem du mildtätig herrschest über mich. Mit dem du mir meine Lage vorführst, mit dem du mich noch tausende Male demütiger machst, als ich es immer schon war. O vor der Pforte deines Heiligtums, Diotima, Göttin, will ich vergehen.
14
Ich lebte nun langsam schlimmer als weiland auf Landexamens-Stipendium. Jenes hatte immerhin meine Kenntnisse belohnt und mir das Studium erlaubt. Ich hatte mich selbst dafür angestrengt und war durchgekommen. Doch hier? Von Mutters und von Sinclairs Gnaden subsidierte ich. Der Mutter schrieb ich jetzt gelegentlich offener, verhehlte ihr nicht mehr, daß ich nur Pfarrer würde, wenn alles, aber auch alles andere scheiterte. Doch was half’s?
Sinclair glaubte an mich, mein Sinclair! Wenn Zeit war, war Nacht. Nacht wurde Alltag, alles war Nacht, und öfter, als es gesund war, sagte ich mir erst recht vor der Pracht der Sterne und all der anderen Himmelskörper da droben. Einmal war Nacht, da hatte Sinclair an eine Türe geklopft tief unter dem Schloß, und Sine war mit uns gekommen. Ich hatte sie nie zuvor gesehen und würde sie nie auf den Straßen sehen am hellen Tag. Doch es war Nacht, warme Nacht, und wir traten ins Hüttchen ein. Wir ließen den Becher kreisen zu dritt, und Sinclair füllte uns allemal nach von dem herrlichen, kühlen Wein. Bis Sines Wangen glühten und ihr Busen uns entgegen wallte. Bis die Augenpaare von uns Dreien ineinander hakten mit nicht zu bändigender Glut und unsre Hände durcheinander gerieten, die Münder, die Leiber, bis aus den Hosenställen beider Männer die Stämme ragten. Und Sines dunkele Hände faßten danach. Und ihre Zunge im Scharlachmund. Der zwiefache Lustschrei der Männer, das Glucksen der Frau wie das eines dunklen fließenden Wassers. Unser Schaum in Sines beiden Fäusten, als sie sie lachend öffnete. Und frischer, noch frischer der Wein, und diese Nacht war noch länger.
15
Der folgende Tag zeugte Oden. Ich schrieb, ich lachte und schrieb. Ich weinte und schrieb. Aber ich schrieb. Wie ein Halbgott, aus lebendigem Schlamme erwachsen. Da waren diese alten Papiere, die mich so lang schon begleiteten. Da schrieb ich darüber, darunter, auf Rückseiten dieses kostbaren, schon nicht mehr weißen Papiers, und dann öffnete ich ein Heft, ein neues, und mit frischer Feder schrieb ich auf die knisternde Unterlage. Wer war es, der zuerst Die Liebesbande verderbt Und Stricke von ihnen gemacht hat? Ich schrieb Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern, Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will.
16
Es kam auf den fälligen Donnerstag. Wir hatten uns verschiedene Male verfehlt. Ich konnte nun schlecht behaupten, meine Hand nach der letzten Begegnung mit Susette nicht gewaschen zu haben, aber ich schaute sie an. Ich schaute auf meine Linke, die sich vor ein paar Wochen instinktiv nach ihrer Wange hin gestreckt hatte, unter der Türe, ach. Ich schaute meine Hand an, ich starrte auf diesen Teil meines Körpers. Ich war ein Kretin. Der Teufel spottete mein. Der Sommer glühte und meine Scham. Sie schrieb Briefe, von denen ich mehr lebte als von Brot. Boten mußten sie übermitteln, versteht sich, zuletzt Freund Böhlendorff, der von Frankfurt herauf gekommen war. Er hatte sie treffen dürfen, der Glückliche, war in ihrem Haus gewesen, er hatte sie allein gesprochen. Ich zersprang. Glühende Scham. Wer war denn ich? Mein Zorn glühte auf gegen diese Cotta und Schiller, auf diese hohen Herren allüberall mit ihren Apanagen, Equipagen, daß sie sich nicht schämten. Daß sich das hochwohlmögende Bankhaus Gontard nicht selbst in die Luft sprengte. Daß Exzellenz Kobus Gontard es wagte, einen Auftritt zu veranstalten mit ihr, mit der Göttin, die der Zufall an seine Seite geweht hatte, und der Esel sah es nie und nimmer. Und was haben wir, sie und ich, denn getan? Nichts. Gar nichts. Einmal der Freiheit unsrer Liebe genossen, vor drei Jahren, das war ein reines Kinderspiel gewesen, ein rasch vergessenes, nimmer erwähntes. Sonst hatten wir doch nur unser Schwärmen, sonst nur unser durchscheinendes Sein in den Himmeln. Nirgends hienieden außer in Büchern, ach in den toten Büchern der Toten, hat es uns je gegeben.
17
Ich sollte nicht wie verabredet hinkommen. Ich sollte den Abend nur vorbeigehen um neun am hochwohlgeborenen Adlerflychtschen Hause. Das Holterlein ging. Das Holterlein eilte. Dem Holterlein sprang das Herzelein in der Brust entzwei, wie er so allein da entlang ging herüber, hinüber, an der Hecke entlang. Stinkender Buchsbaum, faulende Falle des Lebens. Und wieder zur Ecke hinüber, ja, ihr Fenster, ja, es stand offen. Hatte sie mich gesehen? Hatte ich etwas gesehen? Nichts, gar nichts, halluziniert, als wär’s vom Fliegenpilz. Ihre Hand, ihr helles Gesicht gesehen, ihre klare Stimme gehört, das Beben und Schluchzen wieder darin. Ach nichts und nichtig. Tartarus nur, Unterwelt, Abgesang.
18
Schreiend rannte ich zur Nacht an der Nidda entlang. In meinem Kopfe und Herzen intonierten sie die hornalte Hymne der Ungerechtigkeit ohne Unterlaß und bis zum Bersten. Susanne Borkenstein, das Wesen aus dem fernen Hamburg, geworden die Madame Gontard und Diotima, Königin von dem utopischen Dichterstaate, sie konnte sich in jener Welt bewegen - ich hatte es ja gewußt! - sie würde weiter jenem Leben verhaftet bleiben - hab ich es nicht von Anfang an gesagt? - , ihrem wirklichen Leben, das wirklich ein wirkliches war - wer hätte je anderes behauptet!
Ein wirkliches Leben würde sie weiterleben, auch wenn sie es selbst nicht glaubte, nicht wollte, nicht aushielt nach allem, jedoch im Gegensatz zu ihrem und meinem, im Unterschied zu unserem Luftschloß, im Kontrast zu dem Kuckucksnest, das wir Kypros nannten, an dessen Bau wir uns verschlissen. Hoffnung hatten wir als Baumaterial genommen statt Schlamm. Investitionen auch dies, nicht wahr, Exzellenzen Bankkaufleute? Nur für diese zwei Leben gab es keinen Kredit. Die Ungerechtigkeit verstummte. Stumm wanderte ich durch die Nacht hinauf nach Homburg vor der Höhe.