Jüdische Studien als interdisziplinäres Forschungsfeld gab es offiziell nach einer kurzen Blüte in den 1920er-Jahren in der Sowjetunion nicht mehr. Doch jenseits der Akademien und Universitäten begannen seit den 1970er-Jahren Mitstreiter:innen der jüdischen Kultur- und Ausreiseszene, sich in »Wohnzimmerseminaren« mit jüdischer Geschichte und Ethnografie zu beschäftigen.
Das Buch untersucht die Motivation, Netzwerke und Spielräume junger jüdischer Intellektueller in der Spätphase der Sowjetunion. Mitarbeiter:innen der Akademie der Wissenschaften in Moskau gelang es, mit der »Jüdischen Historisch-Ethnographischen Kommission« eine halblegale Austauschplattform zu schaffen. Diese Wiederbelebung jüdischer Geschichte führte allerdings zu Konflikten mit nicht-aschkenasischen Gruppen, die für sich eine nicht-jüdische Herkunftsgeschichte ihrer Ethnien konstruierten. Zeitgleich begannen in Leningrad junge jüdische Intellektuelle Anfang der 1980er-Jahre, auf den Spuren ihrer Vorfahren, die verwaisten früheren Schtetl in der Ukraine, Belarus und im Baltikum zu bereisen. Mit einem wachsenden professionellen Anspruch dokumentierten und erforschten sie deren Geschichte und materielles Erbe. Das Buch beleuchtet erste Aufbrüche und die Neuformierung jüdischer Studien am Ende der Sowjetunion.
Ulrike HuhnUlrike Huhn, geb. 1979, ist seit 2024 Leiterin des Lernorts Demokratie in Verden (Aller). Die Osteuropahistorikerin wurde an der Humboldt-Universität in Berlin mit einer Arbeit zu christlich-orthodoxen religiösen Praktiken in der Sowjetunion promoviert ...
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