»Die hier vorgetragene These ist, dass die Mehrheit der Juden in Frankreich überlebte, weil die Mobilisierung moralischer Normen durch gesellschaftliche Schlüsselakteure, namentlich die Vertreter des hohen katholischen Klerus, das Machtkalkül der Mittäter verschob, ohne die die Einleitung der -Endlösung- in Frankreich nicht möglich gewesen wäre. Ab September 1942 weigerte sich die Regierung in Vichy, Eichmanns Deportationsplan wie geplant und verabredet umzusetzen, und die SS ist außerstande, den sich versteifenden passiven Widerstand zu brechen. Der Fall zeigt exemplarisch, dass Moral nicht machtlos ist, wenn es um Völkermord geht. Moralische Normen werden zum Machtfaktor, so die These, wenn moralische und politische Urteilskraft zusammentreffen und Schlüsselakteure die Gabe und die Möglichkeit haben, das politische Opportunitätskalkül der Indifferenten und Mittäter zu beeinflussen.«
Während der deutschen Besatzungsherrschaft in Frankreich 1940-1944 wurden 76.000 Juden aus Frankreich nach Auschwitz deportiert. Die meisten wurden gleich nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet. Nur etwas mehr als 2.500 ortierte überlebten. Und doch konnten sich Planer und Vollstrecker der »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich nicht durchsetzen. Die Mehrheit der Juden in Frankreich überlebte die Zeit der Besatzung. Beides, Verfolgung und Rettung, war Ergebnis politischer Schlüsselentscheidungen, deren Verlauf und Logik Seibels Studie auf der Grundlage der deutschen und französischen Quellen rekonstruiert.
Die im Juli 1942 einsetzenden Großrazzien und Deportationen der ausländischen Juden rufen den scharfen Protest des hohen katholischen Klerus hervor - darunter Bischöfe und Kardinäle, die der antijüdischen Politik des Vichy-Regimes anfangs noch mit Verständnis begegnet waren. Die Tatsache, dass die Kirche zu den tragenden Säulen des mit den deutschen Besatzern kollaborierenden Vichy-Regimes zählt, macht aus dem moralischen Protest eine Belastung der innenpolitischen Stabilität, an deren Erhalt der SS nicht zuletzt als Ausweis ihrer eigenen Kompetenz und Handlungsfähigkeit gelegen ist.
Die Verfolgung der Juden in Frankreich 1940-1944 erweist sich als ein komplexer politischer und administrativer Prozess, dessen Verwicklungen und Wendungen mit dem herkömmlichen Bild von Besatzungsherrschaft und Kollaboration wenig gemein haben. Er konfrontiert uns erneut mit jenen »normalen Männern«, die zu Tätern und Mittätern wurden, ebenso aber mit denjenigen, die die Anbahnung des Verbrechens zunächst hinnahmen oder an dem Verbrechen mitwirkten, dann aber die »Endlösung« aufhielten oder regelrecht sabotierten. Ihre Motive waren oftmals ebenso wenig edelmütig wie die Motive der Mittäter selbst verbrecherisch waren. Zugleich zeigt sich die elementare Kraft der Moral, sobald das Verbrechen offensichtlich wurde. Die Lehre ist einfach: Das moralische Urteil a priori ist möglich, wenn es um Menschenrechtsverletzungen und Massenverbrechen geht, und es ist wirksam, wenn es sich mit politischer Macht verbindet.
Wolfgang SeibelWolfgang Seibel ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und seit 2006 Adjunct Professor of Public Administration an der Hertie School of Governance, Berlin.
mehr