Die Tage vom 15. bis zum 18. September 1815 verbrachte der Dichter noch einmal auf der Mühle. Seine Gastgeberin hatte sich in den Tagen vor seinem Kommen oft unter einen Weißdorn am Ende des Gartens zurückgezogen und versucht, ihre Gefühle in Verse zu ordnen, was ihr nicht schwerfiel. Womit sie Mühe hatte, war die Orthografie, die sie zu ihrem eigenen Kummer nur mangelhaft beherrschte. Sie fürchtete, daß ihre Schreibfehler den Dichter ernüchtern könnten. So schrieb sie zum Beispiel: »Hochbeglückt in Deiner Liebe«, aber bereits das erste Wort kam ihr seltsam vor. Sie entfernte das »c« und starrte unschlüssig auf »hochbeglükt.« Das eine wie das andere schien ihr nicht richtig. Schließlich wandte sie sich an Rosette. »Ausgerechnet das Wort ' Glück' ist es, was mir zu schaffen macht«, sagte sie.
»Meinst Du das große oder das kleine Glück?« fragte Rosette zurück.
»Das kurze«, antwortete die Willemer.
»Dann weiß ich, was Du meinst. Schreib es mit einem ' C' wie Christiane. - Du bist verrückt. Du wirst Vater unglücklich machen.«
Von dieser Stunde an hatte die Willemer ihre Unbefangenheit im Umgang mit ihrer Familie verloren. Zu den Spielen, die sie im Laufe ihres Lebens gelernt hatte, kam nun das Versteckspiel. Sie saß in ihrer Weißdornlaube, anscheinend mit einer Stickerei beschäftigt, aber wenn niemand bei ihr war, zog sie ihr Schreibzeug hervor und schrieb:
Hochbeglückt in deiner Liebe
Schelt ich nicht Gelegenheit,
Ward sie auch an dir zum Diebe
Wie mich solch ein Raub erfreut!
Warum läßt du dich berauben?
Gib dich mir aus freier Wahl,
Gar zu gerne möcht’ ich glauben
Daß dein Herz ich selber stahl.
Was so willig du gegeben
Bringt dir herrlichen Gewinn,
Meine Ruh, mein reiches Leben
Geb’ ich freudig, nimm es hin.
Scherze nicht! Nichts von Verarmen!
Macht uns nicht die Liebe reich?
Halt ich dich in meinen Armen,
Welch ein Glück ist meinem gleich.
Die Verse flossen ihr mühelos aus der Feder. Es war ihr, als müsse sie sich nur ein Stichwort zurufen, damit es sich in ihrem Kopfe zu einem Reim vollende. Liebe, Herz, Glück, Umarmung und noch mehr: alles Worte, die sie ohne die spielerische Verkleidung eines Gedichtes ihm nie hätte sagen können. Gewiß, es waren alltägliche Begriffe, aber sie gebrauchte sie hier mit dem eindeutigen Ziel, einen Mann, der nicht ihr eigener war, für sich zu gewinnen.
Ein paar Stunden lang trug sie das vollendete Werk an ihrem Busen durchs Haus, unschlüssig, bei welcher Gelegenheit sie es Goethe zukommen lassen könnte. Das Haus war wieder voll mit Gästen - ein Kommen und Gehen. Beim Einschenken des Tees hörte sie das Blatt unter ihrem Kleid knistern. Sie war sich selbst nicht darüber im klaren, ob sie die Komödie verabscheuen oder genießen sollte.
Goethe hatte ihr am Morgen eröffnet, daß er in ein paar Tagen abzureisen gedenke. Im stillen fürchtete sie, daß es nur die bevorstehende Trennung war, die ihn ermutigte, ihr seine Gefühle so offen zu zeigen. Es gab Männer - so viel hatte sie ihr bisheriges Leben gelehrt - denen erst der Abschied die Zunge löste. Erst wenn keine Gefahr mehr drohte, waren sie imstande, sich dem Gegenstand ihrer Zuneigung zu nähern. Sie glaubte Goethe zu durchschauen. Daß er, der Göttliche, von solchen Schwächen nicht verschont blieb, brachte ihn ihr auf eine fast ernüchternde Weise näher. Verdankte sie ihr Glück nur dem Umstand, daß sie sich bald trennen mußten? Am Abend schob sie klopfenden Herzens das Papier unter seinem Türspalt durch.
Kaum merklich war der Herbst ins Land gezogen. Man hätte nicht zu sagen gewußt, an welchem Tag der Sommer geendet hatte. Ein paar dürre gelbe Blätter in der Kastanie vor dem Haus signalisierten den Beginn einer neuen Jahreszeit. Ihnen folgten die üppigen Stauden der Paradeiser, deren Laub sich in bizarren Formen verkrümelte, während die roten Früchte unter der mittäglichen Sonne zerplatzten. Am Morgen erholte sich die Natur nur noch zögernd von der kühlen Umarmung der Nacht. Das Land war eingehüllt in feine Schleier aufsteigender Feuchtigkeit - Myriaden kleinster Wassertröpfchen, die von den Strahlen der aufsteigenden Sonne alsbald vertilgt wurden.