Insofern das Gedächtnis eines Kollektivs in erheblichem Maße durch seine Geschichtsschreibung geformt wird, und insofern ' jede' Geschichtsschreibung ihrem Wesen nach ' notwendig partiellen Charakter' trägt, erklärt sich daraus die wesentlich ' ideologische' Natur aller »Vergangenheits«-Rezeption. Nicht immer sticht dieser Aspekt ins Auge. Man darf gar davon ausgehen, daß er zumeist nicht wahrgenommen wird, besonders dann nicht, wenn es sich um vermeintlich »neutrale« Erscheinungen der »Vergangenheit« handelt. Sobald es jedoch um etwas genuin Kontroverses geht, stellt sich die Polarisation der Ansichten und Meinungen wie von selbst ein, und die »Vergangenheit« - nunmehr ungezügelter ideologischer Polemik ausgesetzt - wird zum gemarterten Gegenstand konträrer Deutungen, unbedachter Um- und Mißdeutungen und vorsätzlicher Klitterungen im historiographischen Diskurs.
Dies wirkt sich nicht nur auf die für die »Vergangenheits«-Rezepion maßgeblichen Historiker, sondern ebenso auf ihr Lesepublikum, die anonymen Konsumenten solch etablierter Rezeption, beunruhigend aus. Denn ' alle' Seiten wünschen sich letztlich, von je eigener Warte, eine die »Vergangenheit« betreffende klare und eindeutige ' Entscheidung' . Die nur schwer zu fassende »Vergangenheit« hingegen öffnet sich, wie gesagt, ' immer ' konträren Interpretationen. Im Gegensatz zu seinem fundamentalen Streben nach klarer Entscheidung sieht sich also das gequälte Gedächtnis des Kollektivs dem Bann der Ambivalenz ausgesetzt. Weil es aber die Koexistenz widersprüchlicher Bestandteile seines Gedächtnisses nicht auszuhalten vermag, trifft das Kollektiv eine gleichsam manichäische, ihrem Wesen nach tendenziöse Wahl: Je nach »Bedürfnis«, »neutralisiert« es gleichsam die Ambivalenz, indem es die infolge immanenter Widersprüche des Gedächtnisses entstandene kognitive Dissonanz durch »Auslöschung« bestimmter Erinnerungsteile und pointierte »Hervorhebung« anderer auflöst. Hierbei durchlaufen die positiv bewahrten Erinnerungsteile einen langwierigen Prozeß der ' vereinfachenden Kodifizierung' . Mit anderen Worten: Da die akkumulative Kristallisierung des Kollektivgedächtnisses (einschließlich seiner historiographischen Manifestationen) als Erzeugnis, zugleich aber auch als ' wirkender' Bestandteil einer historisch gewachsenen gesellschaftlichen Praxis fungiert, sortiert, wählt und verdrängt das Gedächtnis »unliebsame« - zuweilen höchst bedeutsame - Teile des Vergangenen aus dem vorherrschenden Bewußtsein des Kollektivs. Es besteht, so besehen, immer eine ' notwendige' Diskrepanz zwischen der eigentlichen Vergangenheit des Kollektivs und deren bestimmten Gestaltungen im Kollektivgedächtnis. Dieser Umstand hängt zwar immer mit den wirklichen Geschehnissen dieser Vergangenheit zusammen, mag aber auch die latente, wesentlich ideologische - somit heteronome - Funktion des Selektionsaktes erfüllen und sogar entfalten. Daraus wiederum erklärt sich das Phänomen, daß das im Kollektivgedächtnis registrierte Geschehen nicht in seiner vollen Komplexität bewahrt wird, sondern jenen langen Prozeß vereinfachender Abstraktion durchläuft, bis es sich schließlich in komfortabel zugängliche Motive der Bewußtseinsmatrix bzw. in ' Kodes' verwandelt hat.