Wallstein Verlag

Desorientierung


Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner

Reihe: »Wissenschaftsgeschichte«


Im Durchgang durch die Wissenschaftsgeschichte wird erstmals Paul Celans Ausspruch, Büchner sei der Dichter des »Gegenworts«, stichhaltig und einsichtig gemacht.


Der umfangreichste erhaltene Text Georg Büchners ist die »Abhandlung über das Nervensystem der Barbe« von 1836. Helmut Müller-Sievers stellt sie ins Zentrum seiner Untersuchungen über den Zusammenhang von Anatomie und Dichtung. Den Anfang machen Überlegungen zum Problem der Orientierung im 18. und frühen 19. Jahrhundert, welches er wissenschafts- und philosophiegeschichtlich beleuchtet. Es ist für die Nerven- und Hirnforschung der Zeit von großer Wichtigkeit, weil hier die Frage verhandelt wurde, wie symmetrische Objekte, so auch das Hirn, so im Raum orientiert werden können, daß links und rechts, oben und unten, vorne und hinten eindeutig festgelegt sind. Das zweite Kapitel ist der wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion von Büchners »Abhandlung« gewidmet. Ihr Ziel war die Erklärung der Form des Gehirns. Büchner versuchte zunächst, durch die genaueste anatomische Beschreibung die Anzahl der Hirnnerven der Barbe zu bestimmen, um dann durch eine vergleichende Interpretation der Befunde einen »Urtypus« für das Gehirn und die Gestalt der Wirbeltiere überhaupt zu finden. Zwischen diesen beiden Erklärungsarten gibt es allerdings für Büchner keinen Übergang, sie stehen sich wie zwei fremde Diskursarten gegenüber. Dieses Auseinanderfallen von Beschreibung und Interpretation, von Realismus und Einbildungskraft, von Metonymie und Metapher läßt sich, so Müller-Sievers, auch in der Dichtung Büchners zeigen. Ein drittes Kapitel versucht, die poetischen Dimensionen einer Sprache zu ermessen, in der die basale Unterscheidung zwischen Wörtlichkeit und Übertragung nicht mehr gilt und die konsequenterweise so von Zitaten durchsetzt ist, daß die Rückführung auf eine Autorenintention fragwürdig geworden ist.

Zur Reihe:
Die Wissenschaftsgeschichte verstand sich lange Zeit als eine Art Gedächtnis der Wissenschaften. Heute sucht sie ihren Platz in der Kulturgeschichte und sieht ihre Aufgabe nicht zuletzt darin, Brücken zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften zu bauen. Die Formen, in denen dies geschieht, sind keineswegs ausgemacht. Sie sind Gegenstand eines großen, gegenwärtig im Gange befindlichen Experiments. Die historische Einbettung der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Blick auf die materielle Kultur der Wissenschaften, auf ihre Objekte und auf die Räume ihrer Darstellung verlangt nach neuen Formen der Reflexion, des Erzählens und der Präsentation. Die von Michael Hagner und Hans-Jörg Rheinberger herausgegebene Reihe »Wissenschaftsgeschichte« versteht sich als ein Forum, auf dem solche Versuche vorgestellt werden.
Helmut Müller-Sievers

Helmut Müller-Sievers, geb. 1957, studierte Germanistik, Latinistik und Philosophie in Düsseldorf, Florenz, Berlin und Stanford. Associate Professor for German and Comparative Literature an der Northwestern University in Evanston/Chicago. Veröffentlichungen ...

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