Seit der Renaissance wird grazia (Anmut, Schönheit, Grazie) im kunsttheoretischen Diskurs zu einem zentralen ästhetischen Wertbegriff, nicht jedoch zu einer analytischen, konkreten Beschreibungskategorie. Grazia verweist vielmehr auf das, was sich aufgrund seiner künstlerischen Absolutheit jeder begrifflichen Definition entzieht, jedoch als ästhetische Dimension präsent, erkennbar und in seiner Fülle erfahrbar ist. Sie bezeichnet damit eine paradoxe Figur: eine deutliche Undeutlichkeit, eine Prägnanz der Verheißung, eine ästhetische Evidenz, die die Unfasslichkeit dessen, was in der Kunst offensichtlich ist, immer schon in sich birgt. Sie begegnet uns bei Fra Angelico, Raffael und Tizian, bei Guido Reni, Bernini und vielen anderen Künstlern der frühen Neuzeit. Immer neu tritt dabei der Zusammenhang zutage, der zwischen der ästhetischen Erfahrung irdischer Schönheit im Erlebnis der Kunst (grazia) und einem anderen, hierzu vorgängigen Modell besteht, dem der religiösen Verheißung himmlischer Gnade und Glückserfüllung (gratia). Nicht zuletzt ist dies eine Konstellation, die eine unabsehbare Geltung bis in die ästhetischen Theoriebildungen der Moderne und Gegenwart hinein besitzt.
Klaus KrügerKlaus Krüger ist Professor für Kunstgeschichte an der FU Berlin. Fellowships und Gastprofessuren u. a. in Paris, New York, Konstanz, Wien und Rom.
Veröffentlichungen u. a.: Figura als Bild. Streiflichter zu Dürer und zum Mediendiskurs in Mittelalter und ...
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