Scherbengericht
Wie es angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Zum Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, historisierend gesagt, in der Ära des sterbenden Sozialismus, machte ich mir über dies und jenes Notizen. Und merkte gleich, daß ein Gedanke nur Bestand hat, wenn man ihn schriftlich fixiert. Wir sind es gewohnt, so obenhin über vieles hinwegzudenken, Luftblasen, Seifenblasen, doch was man nicht festhält, kehrt im Gedächtnis nie oder doch nur höchst selten wieder. Also schrieb ich auf, was mir durch den Kopf ging: Eine Auseinandersetzung mit der Welt, ihren Erscheinungen und zugleich eine Begegnung mit mir selbst. Der sogenannte Mensch ist ein recht diffuses Wesen, das von sich selber glaubt, es besäße eine exakte Kontur. Wir irren uns immer, sobald wir uns der eigenen Person ernsthaft zuwenden. Dann erst merken wir, wie fragwürdig unsere sogenannte »Persönlichkeit« ist. Durch die Notizen, Reflexionen, Betrachtungen, Anmerkungen, Erinnerungen - es sind inzwischen weit über tausend Seiten - habe ich mich entäußerlicht, um für mich selber sichtbar zu werden. Um zu wissen, wer ich denn eigentlich bin. Aber ich habe mich dabei nicht entdecken können. Die meisten Leute gewinnen ihr Selbstverständnis durch die ihnen gesetzten Grenzen, die ihnen nicht im mindesten bewußt sind. Man kann aber immer ein anderer als der sein, für den man sich im Moment hält. Alles von mir Aufgeschriebene wirkt auf mich fremd - als hätte es ein Sonstwer verfertigt. Nur: Dieser Sonstwer muß ich wohl sein, da sich niemand außer mir als Autor der Texte meldet. Ist diese Ungewißheit über das eigene Selbst nun ein Glück oder ein Unglück? Ach, Brecht, in Ihrer Liste der unbeantworteten Fragen haben die wichtigsten gefehlt.
Günter Kunert (1.Juni 00)