Thomas Manns Goethe-Schriften (1948)
Zu den Essays: »Neue Studien«
Vier Essays umfassen die »Neuen Studien« Thomas Manns, nämlich über Goethe, Nietzsche, Dostojewski, Thomas Mann. »Ältestes, bewahrt mit Treue«, darf auch der Dichter der »Lotte in Weimar« von sich sagen; er hat die Geister, die ihn erweckt und gebildet haben, nie verleugnet. Er gehört zu den wenigen Dichtern unserer Tage, für die Goethe gelebt und geschrieben hat, was angesichts der Goetheferne von Rilke, George, Hauptmann und Legionen andern verbucht werden soll.
Einzig Hofmannsthal hatte die dichterische Tiefe, um den unerschöpflichen, leise überwältigenden Zauber Goethes noch in den letzten Elementen unserer Sprache - daher allgegenwärtig - zu spüren. Daß Goethe eine ganze Kultur ersetze, weil enthalte, oder: daß die »Wanderjahre« eine neue Technik des Lesens voraussetzen, die wir uns noch nicht erworben haben - das sind Einsichten, so rangbezeichnend für den aus den »Tasso«-Versen geborenen Dichter wie eigene Leistungen.
Thomas Mann ist nicht aus Goethe geboren, aber er fand zu ihm. Dem jugendlichen Nietzscheaner mochte es leichtfallen, an Goethe zu ' glauben' , bevor er ihn kannte. Aber er hat es bei der bloß durch atmosphärische Ansteckung erworbenen Bewunderung nicht bewenden lassen; er ist den langen, immer herrlicher werdenden Weg ' in Dichters Lande' gegangen. Die auf den Werttafeln von Sils Maria doch gewaltig überschätzte ' Psychologie' als des Inbegriffs gewitzter Durchschauerei von allem und jedem erfährt vor dem einzelnen Kunstwerk ihre gerechte Relativierung; vor dem »Faust«, den »Wahlverwandtschaften«, der »Iphigenie« wird sie für ihre Überhebung durch Ratlosigkeit gestraft. Die geistige Formenwelt spricht etwas anderes, Unbedingteres an im Menschen als nur das psychologische Interesse in seiner jeweiligen kurz befristeten Modernitäts-Verfassung, sonst wäre die Literatur von Homer bis Shaw mausetot und verschollen.
Eingenommen von Nietzsches Dekadenzlehre und selbstgewisser Psychologiegläubigkeit, hätte Thomas Mann, wie das andern geschah, Goethe noch lange Jahre verfehlen können. Er gehörte, auch wenn die »Buddenbrooks« erwiesen, wie sehr er herausragte, einem Dichtergeschlecht an, das um die Jahrhundertwende auf sein Bewußtsein der Modernität setzte. Ignorieren des Überlieferten galt vielen schon als schöpferisch; das Datum war ihnen bei Kunstwerken wichtiger als dessen Rang und geistiger Gehalt. ' Alt' ' bedeutete einen Unwert, ' neu' einen Wert: auf der Flucht vor den großen Erscheinungen der Geschichte rannten sie in einen kurzschlüssigen Historizismus, rennend die Augen auf die Stoppuhr gerichtet, um das Neuste dem Neuen rechtzeitig überordnen zu können. Wohin sie gelangten, ist in der Mehrzahl der Fälle gleichgültig, aber daß sie der goetheschen Welt entliefen, ist es nicht. Folgenlos konnte ein so fortschrittswahnhaftes Abschwenken aus der erlesensten, freilich auch anspruchsvollsten deutschen Tradition nicht sein. Eine panikartige Angst vor Persönlichkeitsverlust durch Hingabe und Erkenntnis an Meisterwerken erfaßte jene, die selber welche vorhatten. Jeder Musiker mußte die Klassiker und ihre Stilgesetze kennen; die Dichter indessen desertierten, scharenweise, dichtend aus der Literatur. Goethe wurde mit dem absonderlichen Titel ' Altmeister' bedacht, was wohl besagen sollte: Meister unter den dahingegangenen Alten, die den Neuen, ehrlich bekannt, nichts mehr zu sagen haben. Bei Nennung Schillers wurde überhaupt nur noch schmerzlich oder höhnisch gefeixt.
»Schwere Stunde«, so hieß eine erzählende Studie des noch jungen Thomas Mann, deren Held Schiller ist, der kranke, notleidende Schiller, hochgespannt sich verzehrend im Werk, mit Liebe und Neid die umfassendere Begnadung seines Freundes Goethe bewundernd. Damals war Thomas Manns Zuneigung bei dem großgesinnten Benachteiligten, und von Schillers ' sentimentalischem' Standort her ist er, die schöpferisch treibende Entbehrung ermessend, an den Gesegneten herangetreten und ist seinem Bannkreis nicht mehr entronnen. Durch Nietzsches Mißverhältnis zu Schiller (' Der Moraltrompeter von Säckingen') hat er sich nicht verwirren lassen; er hat Schillers Moralismus nicht als billige Forderung an die andern erkannt, sondern, wahrer, als jene Forderung an sich selbst, kraft deren in ihm der Genius seinen Flug anhob. Goethe vertritt in der Erzählung die Idee des Gegensatzes; er wird nur erinnert und erleidet so Verkürzungen.
Der ' Glückliche' , ist er hier, also gesehen mit den Augen der sich um sein selbstbekanntes Lebensgefühl wenig kümmernden, mythisch vereinfachenden Nachwelt. Statuarisch, von außen geschaut ist er, von einem, der sich noch nicht recht mit ihm eingelassen hatte.
Die angestrengte Untersuchung dessen, was deutsch, bürgerlich, künstlerisch sei, erschienen 1918 unter dem Titel »Betrachtungen eines Unpolitischen«, verbirgt verstreut Stellen aus Goethe, die dessen Unfreude am jacobinischen wie nationalen politischen Treiben seiner Tage bezeugen sollten (und es wahrhaftig tun). Auch Schiller wird herangezogen; das im Volksmund so eng vereinte Freundespaar vermochte fast allein, Thomas Mann zeitlich zurück hinter Schopenhauer zu verlocken, so sehr fühlte er sich dem 19. Jahrhundert zugeordnet. Ob es damals war, als er nach Nothelfern Ausschau hielt, ob später - es erwischte ihn, er wurde angerührt und sein Herz sprang auf. Er hat nicht wissen lassen, ob von einem bestimmten Werk Goethes der Funke übersprang; fast wahrscheinlicher ist es, daß Briefe, Tagebücher, Gespräche, Aussagen von Zeitgenossen ihm den Menschen deutlich machten - die Statue differenzierten - und in den Bedingtheiten der schmalen Umwelt seine Größe im Menschlichen gegründet zeigten, von dem er selber so gern sprach. Daß der menschlich Bestrickende ein groß gearteter Dichter war, wird still vorausgesetzt. Die künstlerische Anziehung gilt als selbstverständlich, doch gewann sie nie so überwältigten Ausdruck wie in der in diesem Bande vorliegenden »Phantasie über Goethe«, wo Thomas Mann, über siebzig, hingerissen vom zweiten Teil des »Faust« handelt, »in dem alle Quellen der Sprache springen«. Er fährt weiter, indem er über dieses vielfach als »ungenießbar« geltende Weltgedicht sagt: »Es ist an jeder Stelle so vorzüglich, so geistvoll, so herrlich wortgenau und abundierend an Weisheit und Witz, so kunstfroh, heiter und leicht im Tiefsinn und in der Größe, in der humoristischen Behandlung des Mythos zum Beispiel ..., daß jeder Kontakt damit entzückt, erstaunt, belebt, zur Kunst befeuert, daß es Liebe verdient, dies ewig kuriose Gebilde, weit mehr noch als Ehrfurcht ...«
Aber, wie gesagt, vom Menschen, nicht vom Werk Goethes ist Thomas Mann ausgegangen. Wie hat er sein Leben bewältigt, wie hat er es ausgehalten und zur Höhe geführt, wie war er denn, daß er das aus sich machen konnte: diese Fragen liegen den Aufsätzen zugrunde, die in der Sterbezeit der Weimarer Republik entstanden, als nicht nur die Verfassung, sondern die geistig so großartig durchwirkte Humanität Weimars in totale Gefährdung geriet. Die Titel heißen: Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters - Goethes Laufbahn als Schriftsteller - Goethe und Tolstoi - Über Goethes »Faust« (später in Amerika entstanden). Die Essays bekunden auf jeder Seite ein liebevoll einläßliches Studium und Sichversenken; jede Einsicht, jeder aufgespürte Bezug wird mit reichlichen Zitaten belegt, manchmal mit einem das Formglück oder den Humor auskostenden lebhaften Vergnügen. Genauste Beobachtung, das Gegenteil von Dienst an irgendeinem Goethe-Mythos. Erzieherische Absicht war da verständlicherweise mit am Werk; dem der Panik anheimfallenden Deutschland von 1932 sollte sein größter Vorfahr »musterhaft in Freud und Qual« wieder vor Augen gebracht werden, seine gebändigte Dämonie, seine überwundenen Pessimismen, sein mächtig sich durchsetzender positiver Zug schließlich in allem, was er anfaßte, und sein in allen Flammen des Zweifels gehärtetes Vertrauen in den Menschen und seine Zukunft. Auch die Wirkung auf die zeitgenössische Leserschaft, das mehrdeutige Wechselspiel zwischen Dichter und Publikum, das innere Verhältnis Goethes zu seinem Schriftstellertum wird untersucht, an geschichtlichem, zeitüberragenden Genie-Beispiel also das, was früher an den erdichteten Dichtern Tonio Kröger und Gustav Aschenbach vollzogen worden war.
Die Essays bekunden es, daß Thomas Mann sich seinen Goethe, produktiv aufgerührt, erarbeitet hat bis ins einzelne. Die Anregung zu den Joseph-Romanen empfing er von Goethe, der als Knabe einem Freund eine breite Erzählung von Joseph diktiert, sie aber vernichtet habe, als er ihren Mangel an Gehalt einsah. In »Dichtung und Wahrheit« steht über dem Bibeltext: »Höchst liebenswürdig ist diese natürliche Geschichte: nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich versucht, sie in allen Einzelheiten auszuführen.« - Es brauchte ja wohl noch eine tiefere Bereitschaft und eine umfassendere Konstellation als die zum Empfang dieses goetheschen Geschenks, um die vier Bände »Joseph und seine Brüder« zustande zu bringen, doch ist die Einsenkung des Keimes bedeutend genug, denn nur bei ihm erwies sich die hunderttausendfach gelesene Bemerkung Goethes als Keim und neue Daseinsgewalt.
»Lotte in Weimar«, der Roman, ist dann das große Unternehmen, Goethe als dichterische Gestalt mit exakt gelenkter Phantasie zu erfassen und wandeln zu lassen. In bewegten Spiegelbildern erscheint er zunächst als seelische Wirklichkeit von Menschen seines Lebenskreises, steigernd und bedrückend in seiner übergroßen Lebendigkeit, bis er gegen das Ende der Dichtung und überlieferte Wahrheit verschlingenden Erzählung selber auftritt. Es lag Thomas Mann daran, den Menschen und Allzumenschen im Genie auch darzustellen, die vitale, ins Allgemeine hinabreichende, grundlegende stoffliche Mitgift, mit welcher der in ein hohes Allgemeines hinaufreichende Geist sich abzufinden hatte. Ehrfurcht, Liebe, Ironie bestimmen in wechselndem Mischungsverhältnis die Evokation. Eigenart und Eigenheit des Darstellers treten vielleicht nirgends so selbstbezeugend zutage wie bei dem Gedankenfilm des inneren Monologes, wo der morgendlich sich erhebende Goethe die hauptsächlichsten Motive seines Denkens in sich ablaufen läßt, untermischt mit Erinnerungen an Tagesbagatellen: Zitate und wörtliche Anklänge sind in Fülle da, die Motiv-Verflechtung ist durchaus Thomas Mannisch.
Eine erzieherische Absicht ist auch diesem Werk einverwoben: es sollte die Deutschen dazu anhalten, selbst den größten Männern in freier, unverkrampfter Menschlichkeit gegenüberzutreten, ohne idealistisch aufgipfelndes Pathos, ohne Kotau, ohne jene allzu leicht gelingende Vergöttlichung, die nichts anderes ist als die Vorform gleichgültiger Kaltstellung.
Der den Roman als geistig-menschliche Atmosphäre und als Erscheinung durchwaltende Goethe Thomas Manns wird in manchem Leser auf einen Goethe treffen, den sich ebenfalls tiefbewegte Phantasie erschaffen hat und lebendig zu halten bestrebt ist; die beiden Weimarischen Doppelgänger werden in dialogische Beziehung treten, sich wechselseitig in den sogleich erkannten Übereinstimmungen freudig eins finden, in den Unterschieden hinnehmen und sich abgrenzend schließlich gelten lassen. Es gilt da die Maxime: Sage mir, welchen Goethe du in dir trägst, und ich sage dir, wer du bist. Welches sind die Gründe seines Lebens, seiner Dauer in dem beständig unbeständigen, uns durchreißenden Zeitstrom? In seinem Werk liegen sie, und das erfaßbare Menschliche an ihm erhält Bedeutung, Leben, Dauer vom noch Unerfaßten und vom Unfaßlichen des vor aller Augen liegenden Werkes und seines Zustandekommens, an dem es derart Anteil hat, daß es auch im Offenbarsten auf einen höheren Geheimnisstand hinweist. Die geistige Beziehungswelt des Werkes, die oberhalb des Biographischen liegt und Goethe nicht nur mit seinem dreiundachtzigjährigen Leben, sondern in gesteigerter Bedeutung mit den großen Schöpfern einiger Jahrtausende verbindet, ist jene wirklichste Wirklichkeit, die seinen Namen in ihre stehende Gegenwart emporhob.
Thomas Manns Befassung mit Goethen scheint mir noch nicht an ein Ende gelangt. Der Roman »Lotte in Weimar« ist eine wesentliche Stufe auf einem endlosen Weg. »Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.« Anzeichen sprechen dafür, daß er nicht endet und auch auf diesem Weg unterwegs bleibt, daß er, nachdem er sich des Menschlichen an Goethe versichert hat, auf eine neu belebte Weise vor die Werke tritt. Seine Studie über Kleists »Amphitryon« ist eine glanzvoll durchgeführte Befragung einer dichterischen Schöpfung, reich an Aufhellungen und Entdeckungen, wie sie nur einem vielerfahrenen Kunstverstand beschieden sein können. Aber auch ein Essay über »Faust II« liegt seit zehn Jahren vor, und in dem dicht gerafften Abriß von Goethes Lebenslauf und Leistung in den »Neuen Studien« spricht Thomas Mann von der Verlockung, »einen ganz frischen, ganz unphilologischen und unmittelbar zutunlichen »Faust-Kommentar« zu schreiben«. Er verspüre »die größte Lust« dazu. Wir werden sie daran haben - möge es uns vergönnt sein!