Zeitbegriffe wie »Anfang« und »Ende« verlieren bei Kafka ihre Eindeutigkeit, weil sie im immerwährenden Augenblick zusammenfallen. Von einem Geschichtsgang im Sinn einer geordneten Folge von Fakten und Handlungen kann nicht mehr die Rede sein. Es braucht uns denn auch nicht zu verwundern, daß das dichterische Werk Kafkas auf einen ersten Blick hin eigenartig geschichtslos erscheint. Zwar haben wir ein Beispiel dafür kennengelernt, daß Kafka in persönlichen Gesprächen sich mit so aktuellen Fragen wie dem Taylorismus und den Bedingungen der modernen Arbeitswelt auseinandersetzte. Aber in seinen Erzählungen und Romanen scheint von einer solchen unmittelbaren Auseinandersetzung mit der historischen Situation so gut wie nichts übriggeblieben zu sein. Wer den »Prozeß« oder das »Schloß« nur als Satiren auf die moderne Bürokratie liest, hat die beiden Romane zweifellos nicht gerade im Kern erfaßt. Zwar tauchen in ihnen gelegentlich Apparaturen der technischen Zivilisation auf wie Automobile oder Telefone, aber im übrigen scheinen sie, wie man mit Recht bemerkt hat, in einer Art von zeitlosem Mittelalter zu spielen, das sich historisch nicht weiter lokalisieren läßt. Es kommt hinzu, daß Kafka auch den Zeitangaben im speziellen keinen großen Wert beizumessen scheint. Stellenweise ist er »nachlässig« und bringt die Jahreszeiten durcheinander. Präzise Datierungen sind selten. Vor allem verzichtet Kafka aber darauf, mit dem Zeitbewußtsein zu manipulieren, wie wir das aus andern modernen Romanen, etwa aus Thomas Manns »Zauberberg« oder aus Prousts »Recherche du temps perdu« gewohnt sind. Seine Erzählungen laufen in einer näher nicht bestimmten Zeit ab, ohne kunstvolle Rückgriffe in die erzählerische Vorvergangenheit und ohne ahnungsvolle Ausblicke in die Zukunft. Wie mit eng gebündelten Scheinwerferstrahlen scheint Kafka die Situationen punktuell abzutasten. Wenn man das einmal eingesehen hat, ist man versucht zu behaupten, die Zeit spiele in der Dichtung Kafkas überhaupt keine bedeutende Rolle. Aber das stimmt nur so lange, als man bei »unserem«, dem geläufigen Zeitbegriff stehenbleibt und von ihm aus argumentiert. Wenn man sich dagegen einmal den Blick geschärft hat für die Kafka eigentümliche Geschichts- und Zeitauffassung, dann nimmt man in seinen Werken plötzlich eine Reihe von Phänomenen wahr, die vom gewohnten Zeitbegriff her unverständlich oder gar sinnlos erscheinen, die richtig interpretiert aber einen neuen und wesentlichen Zugang zum Verständnis von Kafkas Welt eröffnen. Es sei nur vorausgreifend an die merkwürdige Tatsache erinnert, daß in dem Dorf, in welchem der »Schloß«-Roman spielt, ständig tiefster Winter zu herrschen scheint und von Sommertagen nur wie von einer fernen, halbverschollenen Sage gesprochen wird. Oder daß in der Mitte des »Prozeß«-Romans eine Szene steht, die in eine merkwürdige Art von Leerlauf geraten zu sein scheint, indem die Folterung der beiden Wächter, die in ihr beschrieben wird, auch am nächsten Tag noch unverändert andauert, zum Entsetzen des Helden K., der auf ein so grausames Perpetuum mobile nicht gefaßt war.
Es ist leicht einzusehen, daß solche auffallenden, aber bis heute nie befriedigend interpretierten Einzelzüge aus dem Werk Kafkas in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff des immerwährenden Augenblicks stehen.
(...)
In anderm Zusammenhang gibt Kafka geradezu eine allegorische Darstellung der Zeit als stehende Bewegung. Es handelt sich um ein kurzes Fragment, das einen merkwürdigen Aufzug beschreibt: Auf einem Waldweg folgen hintereinander ein Hund, ein Reiter, ein Gänsemädchen, ein Schwimmer samt dem Wasser, das er mit seinen Armen teilt und das mitfließt, wie übrigens auch die Waldbäume der allgemeinen Bewegung folgen. Dann kommt noch ein Tischler mit einem Tisch, dann ein Kurier, der mit einer Botschaft des Zaren unterwegs ist, und schließlich der Zar selbst, der sich auf einem Spaziergang befindet. Der Kurier kann nicht mit der gewünschten Geschwindigkeit vorankommen, weil er den Zug nicht überholen kann; das heißt, er kommt in Wirklichkeit von seinem Ausgangspunkt gar nicht los. Die Aufzeichnung schließt mit der ironischen Bemerkung:
Hier zeigten sich die Nachteile so großer Reiche, der Zar kannte seinen Kurier, der Kurier seinen Zaren nicht, der Zar (...) kam nicht weniger schnell vorwärts als sein Kurier, er hätte also die Post auch selbst besorgen können.
Das ist, leicht grotesk gewendet, dasselbe Problem wie in der Erzählung »Eine kaiserliche Botschaft«, wo ein Abgesandter vom Sterbebett des Kaisers in Peking vergeblich versucht, mit einer wichtigen Nachricht zu einem Untertanen zu gelangen, weil es ihm nicht gelingt, von seinem Ausgangspunkt weg zu kommen, denn der kaiserliche Palast, den er verlassen will, hat immer noch einen Hof, der durchschritten sein will:
(...) wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes, niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; (...) die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende (...)
Durch Jahrtausende: das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß es hier im Grunde nicht um eine topographische Distanz geht, die nicht bewältigt werden kann, sondern um die geheimnisvolle Tiefe der Zeit selbst, aus welcher der Bote sich nicht hervorzuarbeiten vermag. Im übrigen ist in dieser Erzählung deutlich genug eine Ursituation Kafkas angelegt. Der Bote, der nicht aus dem Palast hinauszugelangen weiß, ist das genaue Gegenbild zum Mann vom Lande, der in der berühmten Türhüter-Parabel aus dem »Prozeß«-Roman das erste Eingangstor zum Gesetz, obwohl es weit offen steht, nicht zu durchschreiten vermag. Eine andere Ausprägung derselben Grundsituation findet sich in den Fragmenten über den Jäger Gracchus, der seit Jahrhunderten tot ist, aber die Treppe zum Eingang in die Ewigkeit schmetterlingsgleich auf und niederschwebt, ohne jemals die entscheidende Schwelle wirklich überschreiten zu können.
(Aus: Stehender Sturmlauf. Zeit und Geschichte im Werk Kafkas)